Hinter den Zeichen: Carl Crossgrove, Monotype Studio.
„Hinter den Zeichen“ ist eine Serie von Designer-Interviews, in der die Schöpferinnen und Schöpfer der Fonts vorgestellt werden, die wir lieben und gerne benutzen.
In dieser Folge stellen wir Carl Crossgrove vor, Senior Type Designer beim Monotype-Studio. Von Carls frühem Interesse an Kalligrafie und Zeichnen, bis zu seiner Schul- und Hochschulzeit, als er bildende Kunst und Buchgestaltung studierte, faszinierten ihn dauerhaft die Form von Buchstaben. Neben der Erstellung neuer Schriften für die Monotype Library entwirft Carl auch Exklusivschriften, wobei er an zahlreichen Corporate-Branding-Initiativen mitgewirkt hat.
Erfolgreich starten
Die meisten neuen Schriften entstehen, weil es eine Lücke in der breiten Palette des Font-Angebots zu füllen gilt. Die Ursachen hierfür sind vielfältig: Manche Schriften werden eigens für bestimmte Aufgaben, neue Medien oder Umgebungen entwickelt; andere, um ein bestimmtes Gefühl oder eine Stimmung auszudrücken. Sehr häufig werden auch vergessene Entwürfe wiederentdeckt und für die Herausforderungen des digitalen Zeitalters aktualisiert und erweitert.
Am Beginn eines jeden Projekts steht der ständige Austausch mit Designern und Schriftnutzern, um genau zu verstehen, was sie benötigen und wie sich dies auf die Entwicklung der Schrift niederschlägt. Im Monotype Studio gibt es über 50 Menschen, die täglich Buchstabenformen „ein und ausatmen“. Carl ist einer von ihnen.
Wie viele Schriftentwerfer beginnt er mit einer handgezeichneten Skizze, bevor der Prozess am Bildschirm fortgeführt wird. „Ich habe schon immer gerne gezeichnet, auch Buchstaben, also ist das Skizzieren und Korrigieren der Beginn jeder neuen Schrift. Manchmal zieht sich dieser Prozess, mit nur wenigen Buchstaben, über eine lange Zeitspanne hin. Manchmal ist die Grundidee schnell entwickelt, und ich lege in einer Sitzung die Basis für Groß- und Kleinschreibung, deren Kursivformen sowie das Strichstärken-Modell.
„Manche Entwürfe sollen eine ganz spezielle Stimmung transportieren“, erläutert Crossgrove. „So habe ich beispielsweise Amarone entworfen, um eine Lücke im dichten Feld der Schreibschriften zu füllen – kalligraphisch und ausgefranst, aber doch gut lesbar. Die Blockschrift Cavolini wurde speziell für kleinere Bildschirme weiterentwickelt; ursprünglich war sie als Betriebssystem-Font für die Handschrift-Erkennung eines PDA-Notepads gedacht: So bietet sich stets ein Spektrum an Aufgaben und Varietäten für Schriften an.“
Er ergänzt: „In der Papier-und-Stift-Phase, wo es vor allem um die Konturen der Buchstaben geht, erreicht man nur einen gewissen Grad an Vollständigkeit: alles noch ziemlich provisorisch und chaotisch. Solange die Umrisse nicht gefüllt sind, bleibt weitgehend unklar, wie die Schrift irgendwann mal schwarz auf weiß wirken wird.“
Zusammen mit Charles Nix und Juan Villanueva war Crossgrove Teil des Monotype Studio-Teams, das Walbaum restaurierte, eine viel zu wenig beachtete, 200 Jahre alte und dennoch zeitgemäße Serif-Familie. Obwohl solche Revivals auf vorhandenem Vorlagen basieren und nicht auf einem weißen Blatt entstehen, haben sie das gleiche Ziel wie komplett neue Designs: eine Lücke zu füllen beziehungsweise etwas Neues ins Spiel zu bringen..
Im Falle von Walbaum ging es darum, ein prächtiges Arbeitstier für das digitale Zeitalter zu modernisieren, so dass man ihre Wärme, ihren Charakter und ihre vielfältigen Verzierungen und Schnörkel neu genießen kann.
„Wir fanden es bedauerlich, dass die Schönheit und Nützlichkeit der Originale durch jahrzehntelange Formatkonvertierungen im Wesentlichen verloren gegangen sind und sich von den Originalen entfernt hatten“, ergänzt Crossgrove. „Unser Type Director Charles Nix reiste rund um die Welt, um Originalmaterial zu beschaffen. Wir beide untersuchten und vermaßen gewissenhaft die Originale, um sicherzustellen, dass die digitale Neuinterpretation den Geist der Ursprungsentwürfe atmet.“
Für Marken entwickeln
Schriftgestalter werden häufig auch von großen Unternehmen gebeten, eine Lücken zu schließen. Exklusivschriftn sind ein wesentlicher Bestandteil des Portfolios vom Monotype Studio, darunter aktuelle Projekte für Santander, Alibaba, Tencent und Toyota.
Die meisten Marken erwarten, sich mit einer eigenen Schriften vom Wettbewerb abzuheben und ihren Bekanntheit zu festigen. Oder sie wollen die Lesbarkeit quer durch eine Vielzahl von Geräten und Umgebungen (oder beides) verbessern. Manche Marken expandieren gerade in neue Regionen, andere führen eine Umbenennung durch oder ergänzen ihre Palette um neue Produkte. In jedem Fall entwickelt das Monotype-Studio eine enge Partnerschaft mit den Auftraggebern, um die individuellen Herausforderungen zu verstehen und die Markenstimme weiterzuentwickeln.
„Bei Exklusivschriften für Unternehmen beginnen wir meist mit dem Markenkern und dem Bild, das die Konsumenten von der Marke haben. Außerdem klären wir, wo die neue Schrift in Zukunft eingesetzt werden soll“, sagt Crossgrove. „Manchmal ist ein Feeling gewünscht, manchmal steht Funktionalität im Vordergrund. Mode- oder Kosmetikmarken bevorzugen ein offenen, gewagteren Stil beim Buchstabendesign.“
Von diesem Startpunkt aus führt Crossgrove die Marken dann durch einen Prozess, der sich auf reale Einsatzbeispiele konzentriert. „Die Auftraggeber sollen unsere Vorschläge und Entwicklungen in Zusammenhängen sehen, damit man beurteilen kann, ob sich das Design richtig anfühlt und die richtige Stimme rüberkommt“, erklärt er. „Es hilft nicht so sehr, alles in einer Größe darzustellen, schwarz-weiß gesetzt. Beispiele in der firmeneigenen Oberfläche und den Firmenfarben zu präsentieren ist weitaus hilfreicher. Deshalb versuchen wir, unsere Vorschläge in lebensechten Beispielen und typischen Umgebungen zu präsentieren, in denen alle Markenelemente vorhanden sind und die Stimmlage und das Gefühl, das eine Schriftart erzeugt, klar hervortritt.“
Eine Skizze für die Amarone-Familie von Crossgrove, die ausschließlich mit einem breiten Stift gezeichnet wurde.
Der Prozess endet damit aber noch nicht. Sobald ein Design entwickelt wurde und – bei einer Exklusivschrift – die Marke zufrieden ist, wird das Konzept an das Entwicklungsteam übergeben. Die Fontingenieure sind die unsichtbaren Helden im Type-Design, wobei ihre Arbeit genauso wichtig ist wie das Buchstabenentwerfen. Schriften sind Software, und die folgt technischen Standards, damit die Fonts in einer Vielzahl von Umgebungen funktionieren. Insbesondere für Marken müssen Schriften zuverlässig und technisch einwandfrei laufen, und deshalb spielt das Engineering im Monotype-Studio eine zentrale Rolle.“
„Es gibt eine Menge unsichtbarer technischer Arbeiten, die in ein Schriftprodukt einfließen“, sagt Crossgrove. „Die Schriften bestehen einerseits aus Umrissen, konstruiert von den Designern, einschließlich der Buchstabenzwischenräume. Aber es gibt in einem Font zig Tabellen mit Daten, die für die Funktion einer Schrift auf verschiedenen Betriebssystemen enorm wichtig sind. Das Ignorieren eines dieser Datensätze kann bedeuten, dass Unterlängen abgeschnitten werden, der fette Schnitt nicht erscheint, Füllzeichen im Text erscheinen (Tofu) oder die Schrift gar nicht erst im Fontmenü erscheint.
Dies alles sind wichtige Begleitmomente, der sich jede Marke bewusst sein muss, bevor sie auch nur einen Dollar in ein neues Design investiert. Design und Technik müssen Hand in Hand gehen, damit die gut aussehende Schrift überall funktioniert, wo sie gebraucht wird.“
Schrift ist teils Design, teils Technik, und das war schon immer so“, ergänzt Crossgrove. „Ohne die Technologie bliebe es bei der Handschrift oder der Kalligraphie.“
Eine (große) Gruppenleistung
Das Wort „Urlaub“ existiert nicht wirklich im Wortschatz von Carl Crossgrove. Wie andere Designer auch arbeitet er gleichzeitig an mehreren Projekten in unterschiedlichen Entwicklungsstadien. „Um starke, ausgereifte Schriften zu erhalten, ist es für einen Designer nützlich, mehrere Projekte gleichzeitig am Laufen zu haben“, erklärt er. „Schriften profitieren davon, wenn sie über weite Strecken in Ruhe gelassen werden, denn Fehler springen einem erst dann in Auge, wenn man seinen Blick durch andere Projekte wieder geschärft hat und man das alte Projekt aus einer neuen Perspektive betrachtet.“
Einzelne Projekte können Monate oder sogar Jahre des Lebens eines Designers in Anspruch nehmen. In diesem Zeitraum läuft der Prozess der Entwurfsgestaltung und der wiederholten Überarbeitung ab. „Für eine einfache Headline-Schrift können drei Monate vergehen, von der ersten Konzeptskizze bis zur Fertigstellung“, präzisiert Crossgrove. Aber die Entwicklung einer gut ausgebauten Textfamilie kann Jahre dauern, je nach Priorität und wie sehr man sich als Designer auf die aktive Entwicklung konzentrieren kann.“
Die Entwicklung einer neuen Schriftfamilie ist immer eine Teamleistung. Während der erste Entwurf die Vision eines einzelnen Entwerfers repräsentiert, wirkt bei der technischen Ausarbeitung das halbe Studio mit.
Eine von Crossgroves Skizzen für Mundo Sans.
„Geht es um ein eher persönliches Design, bespricht der Entwerfer zwischendurch gerne das Projekt mit den anderen Studio-Kolleginnen und -Kollegen, um Kritik über mögliche Schwachstellen, ungelöste Probleme und zur Klärung der Designabsicht zu erhalten“, sagt Crossgrove. „Gegen Ende des Prozesses hilft die Gruppe, kleine Fehler oder Unsitimmigkeiten zu erkennen. Egal wie erfahren ein Designer sein mag, manchmal muss eine Idee erst sichtbar gemacht werden, bevor sie realisiert werden kann.“ Bei kundenspezifischen Arbeiten verlagert sich dieser Prozess stärker auf den Kunden, aber Studio-Teammitglieder werden oft nach Kommentaren und Vorschlägen gefragt.
Diese kooperative Umgebung ist einer der Vorteile der Zugehörigkeit zum Team von Monotype Studio. Während einige Schriftgestalter es vorziehen, unabhängig oder als Teil einer kleinen Schriftenschmiede zu arbeiten, bedeutet die Zusammenarbeit mit dem 60-köpfigen und erfahrenen Team von Schriftgestaltern und Schriftingenieuren, dass man sich immer eine Expertenmeinung einholen kann.
„In meiner Zeit als Schriftdesigner habe ich viele Leute kennengelernt, die ihre eigenen Studios gegründet haben. Natürlich genießen sie dadurch ein paar Vorteile des Unternehmertums, aber ich bin mit meinem Arbeitsplatz zufrieden“, sagt Crossgrove. „Im Laufe der Jahre habe ich an Projekten gearbeitet, die ich als Selbstständiger nie bekommen hätte. Zum Beispiel an den Google-Projekten Noto Sans und Noto Serif, an den E-Text-Adaptionen einiger Bibliotheksklassiker, natürlich auch an Walbaum und vielen kundenspezifischen Projekten.“