Damit der Laden läuft: Einzelhandel neu gedacht, in Zeiten der Krise.
Wenn wir irgendetwas aus der ersten Hälfte des Jahres 2020 gelernt haben, dann ist es die Unvorhersehbarkeit unseres Alltags und des Betreibens eines Geschäfts, inmitten einer globalen Pandemie. Zwischen „bitte zu Hause bleiben“, Abstandhalten und einem sich rasch entwickelnden Verständnis dafür, wie sich das Virus an öffentlichen Orten verbreiten kann, hat COVID-19 die Art, wie wir einkaufen, grundlegend und teils irreversibel verändert.
Geschäfte, die sich schon länger nicht mehr rentierten, mussten aufgeben. Und Kunden, die einen der systemrelevanten Läden aufsuchen, haben nur ein Ziel: so schnell wie möglich das zu finden, was man braucht, und dabei so wenig wie möglich mit anderen in Kontakt kommen.
Keine Überraschung also, dass der Onlinehandel in den USA gegenüber dem Vorjahr um 68% gestiegen ist. Wer schon vor der Pandemie online gekauft hat, setzte das einfach nur intensiver fort; andere Menschen versuchen es zum ersten Mal und fanden Gefallen daran. Mit dem Restart der Wirtschaft und der schrittweisen Öffnung von Geschäften und Gaststätten überlegen nun viele Kunden, ob sie überhaupt zu den vertrauten Gewohnheiten zurückkehren möchten, sei es aus der Sorge vor einer Infektion (selbst wenn bald ein Impfstoff gefunden ist), oder weil sie das Einkaufen in der Stadt einschränken wollen, aus welchem Grund auch immer. Sie haben vielleicht gelernt, dass der Kauf von Medikamenten, Technik, Kosmetik und Kleidung im Netz sowie das Streamen von Filmen preiswerter oder bequemer ist als früher. Diese Erkenntnis beschleunigt den Zerfall des klassischen Filialhandels, vor allem das Konzept der Einkaufspassagen.
Und so stellt sich die Frage: Braucht es noch Ladengeschäfte?
Das Ende des Einzelhandels, wie wir ihn kennen.
Es sieht alles danach aus, als werde es für den Einzelhandel kein Zurück mehr zum Zustand vor Corona geben. Das veränderte Kaufverhalten der Verbraucher transformiert die Art und Weise, wie der Einzelhandel funktioniert und existiert. Aktuell konzentrieren sich viele Geschäfte auf das Umgestalten ihrer Räumlichkeiten, auf ein hygienisches, rationelles und kontaktloses Einkaufserlebnis.
Fast Company prognostiziert, dass die Lust aufs Stöbern stark zurückgehen werde. Läden werden nicht mehr die Orte sein, wo Menschen Produkte suchen und diese ausprobieren, sondern Orte, an denen Kunden ein online bestelltes Produkt abholen, zurückgeben oder umtauschen bzw. die Beratung einer/s Mitarbeiter/in suchen.
Die Idee dahinter ist nicht unbedingt neu. Bringdienste wie Lieferando haben die Abholung und Zustellung per Boten populär gemacht. Immer mehr Geschäfte bieten ihren Kunden die Möglichkeit, online einzukaufen und sich die Waren dann per Kurier liefern zu lassen; mancher Supermarkt organisiert die Zustellung mit einen eigenen Dienst an (Edeka mit Bringmeister, in Berlin und München). Was wirklich neu ist: dass inzwischen ein nennenswerter Anteil des Geschäfts über diesen Weg erwirtschaftet wird.
Bei Starbucks hat die Pandemie den Plan beschleunigt, kleine „Pickup“-Läden – ohne Bewirtung – für die Auftragsabwicklung einzurichten und die Anzahl der Cafés zu reduzieren, in denen Menschen entspannen können. Während man sich für diese Antwort auf ein verändertes Kundenverhalten eigentlich drei bis fünf Jahre Zeit lassen wollte, war die milliardenschwere Reform plötzlich unabwendbar.
Viele Kunden wollen nach der Wiedereröffnung nicht mehr im Cafés sitzen und dort Kontakte knüpfen oder arbeiten, wobei die einen ihre Routinen und Gewohnheiten durch die Pandemie verändert haben und andere sich in einer geräuschvollen Caféumgebung nicht wohl fühlen. Starbucks sagt dazu, dass man durch die Pandemie die Idee überdenken müsse, den Kunden einen „dritten Ort“ zwischen Arbeit und Zuhause anzubieten. Aktuell und wahrscheinlich auch in Zukunft möchten sie nur noch ihren Kaffee in Empfang nehmen und wieder gehen.
Fast Company berichtet aber auch, dass die Beziehungen zwischen Mitarbeiter und Kunde im Handel wichtig bliebe. So könnten Kunden beispielsweise im Laden anrufen, um über eine Anschaffungswunsch zu sprechen, worauf ein/e Angestellte/r eine Auswahl trifft, die der Kunde zu Hause ausprobieren kann. Auf diese Art könnte das Persönliche beim Einkaufen wieder an Bedeutung gewinnen, weil Mitarbeiter beratend tätig sind, anstatt lediglich eine Online-Bestellung abzuarbeiten.
Den Kunden ein sicheres Umfelds anzubieten ist eine neue Situation im Einzelhandel. Zu den neuen Pflichten der Verkäufer gehört jetzt die Desinfektion von Produkten und Oberflächen, mehrfach am Tag. Sichtbare Vorkehrmaßnahmen nehmen den Kunden eine der Sorgen, die sie bei der Rückkehr zum normalen Shopping haben. Laut einer Untersuchung des E-Commerce-Zahlungsunternehmens Fast sind 89 Prozent der Konsumenten nach wie vor besorgt beim Einkauf in Läden. Die größte Sorge bereitet 63 Prozent der Befragten die Nähe zu anderen Menschen, 40 Prozent machen sich vor allem über die Sauberkeit der Geschäfte Gedanken, 34 Prozent scheuen sich davor, Kassenterminals zu berühren und 32 Prozent möchten den Umgang mit Bargeld vermeiden.
Viele Geschäfte gestalten ihre Verkaufsflächen gerade so um, dass die Kunden Abstand halten können: durch Markierungen auf dem Boden, das Entfernen von Regalen oder das Zustellen von Wegen. Umkleidekabinen werden teilweise geschlossen. All dies hat zur Folge, dass die Anzahl der Kunden, die sich gleichzeitig im Laden aufhält, sinkt … und damit die Gesamtzahl über den Tag verteilt.
Während der Einzelhandel auf der einen Seite die Einrichtung seiner Läden überarbeitet, öffnet so manche große Marke die Büchse der Pandora, indem sie digitale Kanäle für das Direktgeschäft aufbaut, um die Krise zu überbrücken. So haben jüngst Pepsi und Frito-Lay Webshops eröffnet, in denen ihre Fans Softdrinks und Snacks direkt ordern können. Ein Experiment, mit dem man die Impulskäufe am Point of Sale durch Online-Umsätze aufwiegen möchte, vielleicht sogar mit einem intensiveren Markenerlebnis als am Supermarktregal. Auf ähnliche Art investieren gerade einige Marken jede Menge Geld in ihre digitalen Kanäle, beispielsweise für die Ergänzung ihrer Website um einen Saleskanal, der die Waren entweder direkt an die Kunden liefert oder binnen weniger Minuten zur Abholung in einem Laden in der Nachbarschaft bereitstellt. Wir haben aber auch beobachtet, wie lokale Brauereien und Weinhandlungen einen Online-Shop gründeten, zunächst um den Gaststättenbetrieb zu ergänzen, vielleicht aber auch irgendwann komplett zu ersetzen. Andere Handelsunternehmen schwören auf mobile Apps, um am Ball zu bleiben.
Arpan Podduturi, Produktleiter bei Shopify Retail, einer Plattform, die kleine bis mittlere Unternehmen beim Online-Verkauf von Produkten über POS-Software unterstützt, sagt: „Wir helfen Einzelhändlern gerade dabei, neue Verkaufskanäle zu erschließen, so dass sie im aktuell schwierigen Einzelhandelsumfeld und bei geringer Kundenfrequenz trotzdem Umsätze im Laden machen; wenn die Kunden dann irgendwann zurückkehren, werden die Umsätze automatisch steigern.
Die Rolle des Designs.
Da Menschen und Marken mit großem Tempo in Richtung eines vertieften, digitalen Einkaufserlebnisses eilen, wird irgendwann die Persönlichkeit der Online-Präsenz den Unterschied machen. Dies lässt sich entweder über ein gutes Design erreichen, das sich warm, ehrlich und handgemacht anfühlt (mit natürlichen Farben, liebevoll inszenierten Fotos mit authentischen Menschen und einer charmanten Typografie) oder durch die Bereicherung der Kundenreise mit einer stark personalisierten Komponente: weniger transaktionsgetriebene Bedürfnisbefriedigung, mehr Menschlichkeit und Emotion.
Wenn also das Schlendern durch Ladenpassagen rückläufig ist, sollten Marken-Websites in Erwägung ziehen, ihren digitalen Shoppingkanal so umzugestalten, dass er die zeitlosen Qualitäten des physischen Shoppings aufnimmt, zum Beispiel Schaufenster oder das Gespräch mit den Verkäufer/innen. Wie wäre es mit Live-Chats oder einem Videoanruf, statt Kaufempfehlungen von Bots? Oder mehr Inhalten auf Websites und sozialen Kanälen, die von Verkäufern und Kunden kuratiert werden?
Andere Unternehmen treiben die Personalisierung voran, so dass man Käufern auf der Grundlage von Browsing-Daten und Präferenzen maßgeschneiderte Angebote machen kann. Einer Marke, die weiß welche Produkte für einen Kunden oder eine persönliche Verkaufsinteraktion maximal relevant sind, kann der Unterschied zwischen einem höheren durchschnittlichen Auftragswert und Artikeln pro Bestellung egal sein.
Die Markenerlebnisse online und die im Store müssen stets im Einklang sein. Mögen sich die Methoden der Kanäle unterscheiden – online stöbern und kaufen, im Geschäft nur Termine, Abholung und Rückgabe –, erste die unverwechselbare visuelle Identität führt sie zu einer nahtlosen Benutzerreise zusammen. Egal welchen Weg Sie gehen, Ihren Kunden sollte immer klar sein, dass sie in der Obhut Ihre Marke sind und wohin die Shoppingreise geht. Eine gebrochene Markenidentität hinterlässt irritierte Verbraucher.
Als Marke und auch Verbraucher bewegen wir uns gerade auf unbekanntem Terrain. Um herauszufinden, was in dieser neuen Realität des Einzelhandels wirklich funktioniert, müssen wir vieles ausprobieren. Erfolg oder Misserfolg liegt allein in der Hand jener Unternehmen, die sich permanent anpassen, um die Verbindung zu ihren Kunden zu halten. Das ist weniger eine Frage des Bedarfs, sondern eine Sache des Gefühls, von Emotionen.